Warum vernachlässigen Behaglichkeitsforscher meist die Raumluftfeuchte?

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Zum Beitrag „Prof. Bragers neue Thesen zur thermischen Behaglichkeit“, erschienen in cci Branchenticker am 27. August, erhielt die Redaktion eine Leserzuschrift von Dr. med. Walter Hugentobler, die Sie nachfolgend lesen.

Anmerkungen eines Mediziners zum Thema thermische Behaglichkeit

Dr. med. Walter Hugentobler Aktuell bestehen noch deutliche transatlantische Divergenzen in der Definition und im Empfinden von komfortablem Raumklima. Dies betrifft besonders den uns Europäer befremdenden Kult um kühle und gleichzeitig zugige Geschäftslokale, Büroräume und Transportmittel. Bedenklich ist, dass wir uns aktuell ebenfalls noch in Richtung zu mehr sommerlicher Kühlung bewegen. Nicht zuletzt, weil unsere energetisch „optimierten“ Gebäude über immer weniger thermische Speicherfähigkeit verfügen (Materialien, Masse, thermische Trägheit) und für die sommerliche Wärme immer durchlässiger werden. Ich verweise diesbezüglich auf den sehenswerten TV-Beitrag in 3sat „Cooler Kollaps, Deutschland kühlt sich krank“ (Anmerkung der Redaktion: Mitglieder finden den Direktlink auf die Sendung auf Seite 2) .

Auffällig ist, dass die LüKK-Branchen beidseits des Atlantiks ein ungenügend ausgeprägtes Verständnis dafür haben, dass Kühlen und Heizen immer mit einer Veränderung der relativen Luftfeuchtigkeit verbunden ist, auch wenn die absolute Feuchte unverändert bleibt! Dies wird auch im lesenswerten Kommentar von Dr. Manfred Stahl unmissverständlich betont und gerügt. Ich kann als Arzt nur beipflichten und anfügen, dass für die menschliche Physiologie ausschließlich die relative Feuchte relevant ist. So sind auch für das subjektive Temperaturempfinden beide, in der relativen Feuchte miteinander verknüpften, physikalischen Größen Temperatur und Feuchte ausschlaggebend (siehe Humidex – Anm. d. Red.: Den Beitrag „Grundlagen: Luftfeuchte und Gesundheit“ finden Sie unter Artikelnummer cci20777 in cci Wissensportal).

Zahlreiche Studien zur subjektiven Wahrnehmung der Raumtemperatur waren nutzlos und führten zu falschen Resultaten! Unnütz und irreführend, weil nur die Temperatur und nicht gleichzeitig die relative Luftfeuchtigkeit protokolliert wurde! Selbstredend spielen für die subjektive Temperatureinschätzung viele anderen Faktoren ebenfalls eine Rolle, wie Konvektionsparameter, Temperatur der Umschließungsflächen, Bekleidung, Aktivitätsgrad, körperliche Konstitution, Alter, Geschlecht und viel Psychologie! So beeinflusst zum Beispiel die Möglichkeit, aktiv auf das Klima Einfluss nehmen zu können, die subjektive Wahrnehmung entscheidend.

Von den maßgeblichen drei Klimafaktoren „Temperatur“, „Konvektion“ und „Feuchte“ wird die Feuchte fast systematisch vergessen, unterschätzt oder kleingeredet. Gegen zu tiefe oder zu hohe Temperaturen hat jeder Einzelne jederzeit einfache Einflussmöglichkeiten zur Verfügung. Er kann die Bekleidung anpassen, sich mehr bewegen, allenfalls einen Tischventilator verwenden oder Fenster öffnen respektive schließen. Der zu trockenen oder zu feuchten Raumluft sind wir alle nahezu wehrlos ausgeliefert! Zu feuchte Raumluft kann der Einzelne praktisch nicht beeinflussen, außer durch Öffnen der Fenster im Winter. Die viel häufiger zu trockene Raumluft missbraucht uns ungefragt und jederzeit als Feuchtelieferant und damit als Luftbefeuchter. Mehr Trinken nützt nichts gegen ausgetrocknete Nasen, Augen und Haut, und auch die Kehle wird nur kurzfristig befeuchtet! Zusätzlich beschert uns trockene Raumluft eine höhere Staubbelastung und eine höhere Ansteckungsrate an Infektionen. Zum Abschluss dies: Durch Befeuchtung können wir 1 bis 3 K Heiztemperatur „einsparen“. Bei der Wahl einer energieeffizienten Befeuchtungstechnik resultiert unter Umständen ein energetisches Nullsummenspiel (siehe: Energetische Bewertung von Wohnungslüftungsgeräten mit Feuchterückgewinnung, Abschlussbericht, Passiv Haus Institut, 2008. Anm. der Red.: Mitglieder finden den Direktlink auf Seite 2). Sichere Gewinner sind Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und unsere Gesundheit!

Bedenklich stimmt auch die folgende Entwicklung. Die Raumtemperaturen in Wohn- und Arbeitsräumen wurden in Europa in den letzten fünfzig Jahren um rund 3 bis 5 K angehoben. Angenehm daran ist, dass nun jedermann im T-Shirt am Arbeitsplatz sitzend nicht frieren muss. Weniger angenehm sind die Konsequenzen in Bezug auf den erheblich vermehrten Energiebedarf. Die höheren Raumtemperaturen führen für sich genommen bereits zu einer Verminderung des relativen Feuchteangebots um rund 10 % im gesundheitlich sensitiven Bereich zwischen 30 und 50 %. Kombiniert mit der nicht personenbezogenen, übermäßigen Belüftung führt dies in den Wintermonaten zu einer deutlichen Verschärfung des Konkurrenzkampfs um Feuchtigkeit zwischen Gebäudenutzern und der erbarmungslos durstigen Raumluft.

Dr. med. Walter Hugentobler

Artikelnummer: cci35182

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