Lufttechnische Konzepte im Gesundheitswesen – vom anatomischen Praktikum bis zum OP-Saal

In vielen Bereichen des Gesundheitswesens kann es durch luftgetragene Partikel, vermehrungsfähige Keime und gasförmige Schadstoffe zu Beeinträchtigungen oder gar einer gesundheitlichen Gefährdung von Patienten und Personal kommen. Adäquate raumlufttechnische Maßnahmen reduzieren diese Risiken deutlich, indem sie die Störgrößen erfassen und belastete Luft abführen, bevor kritische Bereiche beziehungsweise Konzentrationen erreicht werden. Die Effektivität dieser Maßnahmen hängt entscheidend von der Art und Ausführung des Luftführungs- und Erfassungskonzeptes und den damit verbundenen Strömungsformen im Raum ab. Grundsätzlich werden in der Raumlufttechnik vier verschiedene Strömungsformen eingesetzt.

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Abbildung 1: Strömungsformen in der Raumlufttechnik (alle Abb. © ROM-Technik)

Bisher Fokus auf Misch- und die Verdrängungsströmung

In Räumen des Gesundheitswesens sind jedoch fast ausschließlich die Misch- und die Verdrängungsströmung zu finden. Die Schichtströmung und die zielgerichtete Kombination aus Verdrängungs- und Schichtströmung finden dagegen nur wenig Beachtung, obwohl sie in vielen Fällen sehr gute Alternativen darstellen. Nachfolgend wird anhand von zwei Beispielen erläutert, wie eine zielgerichtete Auswahl und Entwicklung von Luftführungs- und Erfassungskonzepten aussehen kann.

Lüftungstechnische Praxis im anatomischen Praktikum

In der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses ist das anatomische Praktikum ein elementarer Baustein, um den menschlichen oder tierischen Körper in seiner dreidimensionalen Komplexität kennenzulernen. Zur Fixierung, Konservierung und Lagerung des Gewebes wird als Grundchemikalie karzinogenes und keimzellmutagenes Formaldehyd genutzt, genutzt, welches seitens des Chemikalienrechts als Karzinogen (Kategorie 1B) und Keimzellmutgen (Kategorie 2) eingestuft ist.

Umfangreiche Untersuchungen an 22 anatomischen Instituten haben gezeigt, dass in vielen Präpariersälen trotz lufttechnischer Anlagen der für Formaldehyd gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) von 0,37 mg/m³ (0,30 ppm) nicht eingehalten wurde. Die Rud. Otto Meyer Technik GmbH (ROM), Hamburg, erhielt daraufhin den Auftrag vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), Sankt Augustin, unter Beteiligung der Unfallversicherer und zweier anatomischer Institute aus Marburg und München, ein Konzept zur effektiven Reduzierung der Formaldehydkonzentration im anatomischen Praktikum zu entwickeln. Als Zielwert wurde 0,25 mg/m³ (0,20 ppm) vorgegeben.

Neu: Gerichtete Absaugströmung nach dem Strömungsprinzip von Wirbelstürmen

Für das Projekt wurde im versuchstechnischen Labor ein Teilbereich eines Präpariersaales (AR = 34 m²; HR = 3,10 m) nachgebildet und die Anlagentechnik typischer Präpariersäle untersucht.

Abbildungen 2a bis c: Drei Systemvarianten bilden die gängigen Bestandssyteme nach: mit Kühldecke, zentralem Zuluftdeckenfeld und Tischabsaugung (links), Zuluft über Textilschläuche in Kombination mit Tischabaugung und Bodenabluft (Mitte) und zentrales Zuluftdeckenfeld mit großflächigen Leuchtkörpern als Störgrößen plus Tischabsaugung (rechts).

Aus den drei Systemvarianten konnten folgende Erkenntnisse gewonnen werden:

  • Die Bestandssysteme führen thermische Lasten nur unzureichend ab.
  • Die Erfassungswirkung der an den Präpariertischen abgesaugten Luft ist entweder unzureichend oder sie korrespondiert nicht ausreichend mit der Zulufteinbringung.
  • Störeinflüsse durch die Tischbeleuchtung sind nicht berücksichtigt.

Darauf basierend wurde ein lufttechnisches Konzept entwickelt, welches die definierten Zielwerte sicherstellen sollte. Um formaldehydbelastete Luft am Präpariertisch effektiv mit größtmöglicher Tiefenwirkung zu erfassen, wurden „ROM-Drall-Elemente“ als Linienabsaugung am Umfang des Präpariertisches installiert. Diese Lösung setzt das Strömungsprinzip von Wirbelstürmen in eine gerichtete Absaugströmung um.

Abbildungen 3a und b: Wirbelströmung in einem „ROM-Drall-Element“

Die Zuluftführung erfolgt dabei zweistufig als partielle Verdrängungsströmung über ein impulsarmes Zuluftdeckenfeld sowie als Schichtströmung über bodenstehende Luftdurchlässe in den Ecken des Versuchsraumes.

Abbildungen 4a und b: Lufteinbringung über das Zuluftdeckenfeld (links) und über Schichtluftdurchlässe (rechts)

Die Strömungsbilder in den Abbildung 4a und b zeigen, dass die Zuluftführung und die Absaugung über dem Präpariertisch (2.000 m³/h) bei der neu entwickelten Lösung optimal aufeinander abgestimmt sind und es zu keinen sichtbaren Ausspülungen im Tischbereich kommt. Die gemessenen Konzentrationen unterschreiten die Werte der untersuchten Bestandssysteme um den Faktor 10 bis 50. Auch höhere thermische Belastungen im Tischbereich haben die Situation nicht verschlechtert. Das System arbeitete stabil.

Im nächsten Schritt wurde das Konzept in einen fiktiven Anatomiesaal mit zwölf Präpariertischen implementiert und unter realitätsnahen Randbedingungen anhand einer numerischen Strömungssimulation validiert. Die Strömungsmuster und Konzentrationswerte der Laborstudie konnten hierbei sehr gut reproduziert werden (Abbildungen 5a und b).

Abbildungen 5a und b: Formaldehyd-Konzentration im Längsschnitt (links) und Stromlinien der Raumströmung (rechts)

Die Luftgeschwindigkeiten und -temperaturen liegen in für Anatomien üblichen Bereichen (siehe Abbildungen 6a und b). Die Luftschichtung ist gut in Abbildung 6b erkennbar.

Abbildungen 6a und b: links Geschwindigkeitsverteilung, rechts Temperaturverteilung im Längsschnitt

Nach Abschluss des Projektes wurde das System zudem unter realen Bedingungen während eines anatomischen Praktikums getestet, bei dem zwölf Studenten und ein Dozent zugegen waren. Die zu untersuchende Körperspende wurde hierfür mit einer hochprozentigen Formalin-Lösung behandelt.

Abbildungen 7a und b: Validierungsmessungen in einer Bestandsanatomie

Die zuvor per Laboruntersuchungen und Simulationsrechnungen ermittelten Ergebnisse und Erkenntnisse wurden im Praxisversuch bestätigt, wobei das Konzentrationsniveau durch den Störeinfluss der sich bewegenden Studenten erwartungsgemäß deutlich höher war als bei den sehr geringen Laborwerten. Absolut betrachtet lagen sie aber immer noch deutlich unterhalb des Zielwertes von 0,25 mg/m³ (0,20 ppm) und sogar unterhalb des Richtwertes für normale Innenräume von 0,10 mg/m³ (0,08 ppm). Auf Basis dieser Ergebnisse erfolgt nun die praktische Umsetzung des Konzeptes in den ersten Anatomieneubauten.

Lüftungstechnische Praxis in OP-Räumen

Die im anatomischen Praktikum ausgebildeten Mediziner gehen nach ihrem Studium in die Facharztausbildung und somit in die Praxis. Viele von ihnen werden später auch operative Eingriffe vornehmen, für die es spezieller OP-­Räume bedarf, in denen aseptische Eingriffe vorgenommen werden können. Die für OP-Räume maßgebliche Norm DIN 1946 Teil 4 „Raumlufttechnische Anlagen in Gebäuden und Räumen des Gesundheitswesens“ (2018) fordert für die Raumklasse Ia eine lufttechnische Versorgung über eine turbulenzarme Verdrängungsströmung (TAV) aus dem Deckenbereich. Die Größe des Schutzbereiches umfasst gewöhnlich 3,0 m x 3,0 m. Bei in der klinischen Praxis üblichen Abströmgeschwindigkeiten der Zuluft von 0,25 bis 0,30 m/s ergibt sich unter Berücksichtigung eines zehnprozentigen Zuschlags gemäß DIN 1946 Teil 4 ein Zuluftstrom von circa 8.900 bis 10.700 m³/h.

Dem Einsatz von TAV-Systemen liegt die Überlegung zugrunde, dass im Raum freigesetzte Partikel und Keime von der nach unten gerichteten, zuvor sehr stark gereinigten Zuluftströmung unmittelbar erfasst und gerichtet zur Abluftstelle außerhalb der Schutzzone transportiert werden. In der Praxis wird das gerichtete Strömungsfeld aber durch luftundurchlässige Körper in Form von OP­-Leuchten gestört. An diesen Störstellen entstehen Staupunktbereiche, um die die Strömung herumgelenkt wird, wodurch es hinter den Störkörpern zu Rückströmwirbelgebieten kommt, in denen freigesetzte oder eingetragene Partikel zirkulieren und nur langsam abgeführt werden.

Abbildung 8: Geschwindigkeitsfeld des TAV-Systems

Wärmequellen wie Personen, Monitore und Geräte sind weitere Störfaktoren, deren Auftriebsströmungen der TAV-Strömung entgegengerichtet sind. Üblicherweise wird versucht, sie durch entsprechend hohe Abströmgeschwindigkeiten der Zuluft oder durch strömungstechnisch optimierte TAV-Systeme (Differentialflow, Temperature Controlled Flow) zu kompensieren. Viele Studien, zum Beispiel aus den Jahren 2016 und 2017 von Prof. Martin Kriegel vom Hermann-Rietschel-Institut an der TU Berlin, haben aber bereits gezeigt, dass hohe Schutzgrade unter realen OP-Bedingungen aufgrund der zuvor beschriebenen Störeinflüsse nur schwer zu erreichen sind.

Schichtströmung ersetzt turbulenzarme Verdrängungsströmung (TAV)

Bei der ROM Technik entstand schon im Jahr 2007 die Idee, die bewährte Schichtströmung auch in OP­Räumen einzusetzen.

Abbildungen 9a und b: Luftführung im OP-Saal mit Schichtströmung (oben schematisch, unten Simulation)

Schichtströmungen nutzen die natürlichen Thermikströmungen an wärmeabgebenden Quellen. Die erwärmte Luft strömt in Richtung Raumdecke, wird dort abgesaugt und durch impulsarm nachströmende Luft im unteren Raumbereich ersetzt (siehe Abbildung 9b). Es bilden sich voneinander getrennte Luftschichtbereiche, deren Schichthöhe durch den Zuluftvolumenstrom und die Thermikströmungen definiert wird. Die untere Luftschicht, zu der der OP-Bereich gehören muss, besitzt dann nahezu Zuluftqualität. Korrelieren jetzt luftgetragene Partikelemissionen mit den wärmeabgebenden Quellen, zum Beispiel keimbelastete Hautschuppen aus dem Hals-Kopf-Bereich des Personals oder chirurgische Rauchgase, werden diese mit der Warmluft in die obere Luftschicht getragen und dort ohne Rückströmungin die untere Raumschicht abgesaugt. Mögliche Partikelquellen im bodennahen Bereich wie OP-Kleidung ohne Arm- und Beinbündchen sowie „kalte“ Partikelquellen sollten hierbei vermieden werden.

Abbildungen 10a und b: Geschwindigkeiten (links) und Temperaturen (rechts)

Vorteil dieser Luftführung ist, dass im Vergleich zum TAV-System die erforderliche Schutzwirkung (Schutzgrad >2 mit eingeschwenkten OP-Leuchten) mit einem deutlich geringeren Zuluftstrom erreicht wird. Der thermische Komfort für das OP­Personal ist zudem deutlich verbessert.

Bis zu 40 % Energie sparen

Der Energieaufwand zum Betreiben eines Operationssaales ist unter anderem aufgrund der großen Volumenströme der OP-Lüftung und den daraus resultierenden thermischen Randbedingungen sehr hoch. Im Rahmen einer Bachelorarbeit bei der ROM Technik und an der Fakultät Versorgungs- und Umwelttechnik der Hochschule Esslingen hat Martin Gauß 2010 festgestellt, dass der Betrieb eines OP-Raums mit TAV-System etwa 20 MWh/a Strom, 21 MWh/a Wärme und 15 MWh/a Kälte sowie 10 t Wasser pro Jahr erfordert. Durch den Einsatz der Schichtlüftung kann der Zuluftstrom jedoch um circa 65 bis 70 % reduziert werden. Die hieraus resultierenden Energieeinsparungen liegen im Vergleich zum TAV-System bei rund 30 bis 40 %. Hinzu kommen aufgrund des einfachen Anlagenaufbaus noch signifikante Einsparungen bei den Investitions­ und Wartungskosten.

Fazit

Die zuvor durchgeführten Betrachtungen zeigen, dass strömungstechnische Probleme einer gesamtheitlichen Betrachtung der Emissionsquellen, der Strömungsform und des Erfassungssystems bedürfen. Die Wahl des Luftführungs- und Erfassungskonzeptes definiert maßgeblich, in welcher Qualität die Schutzziele erreicht werden und welche Luftvolumenströme hierfür erforderlich sind. Sie sind nicht zuletzt die bestimmenden Größen für die Energieeffizienz der Anlagen, die Investitionskosten sowie die Lebenszykluskosten. Zur Entwicklung und Validierung der Lösungskonzepte tragen labor- und simulationstechnische Betrachtungen maßgeblich bei. Sie sichern die praktische Umsetzung ab und beziffern die Einsparpotentiale.

*Autor: Dipl.-Ing. Peter Thiel, Leitung Forschung und Entwicklung bei der Rud. Otto Meyer Technik GmbH in Hamburg

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Ein Kommentar zu “Lufttechnische Konzepte im Gesundheitswesen – vom anatomischen Praktikum bis zum OP-Saal

  1. Zu „Mögliche Partikelquellen im bodennahen Bereich wie OP-Kleidung ohne Arm- und Beinbündchen sowie „kalte“ Partikelquellen sollten hierbei vermieden werden.“

    Meine Anmerkung: es müssten an beiden Systemen noch Keimproben auf dem OP-Tisch genommen und ausgewertet werden.

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