Kommentar: Hier fehlt mir die Toleranz

Dr. Manfred Stahl (Abb. © cci Dialog GmbH)

Als ich für cci Wissensportal den Entwurf der DIN EN 12599 „Übergabe von RLT-Anlagen in Nichtwohngebäuden“ zusammengefasst habe, ist mir in der Norm ein mögliches Versäumnis aufgefallen, das auch weitere technische Regeln der LüKK betreffen könnte: Wie werden bei Komfortparametern messtechnisch ermittelte Abweichungen von geplanten Sollwerten beurteilt? Wie groß darf die Toleranz sein?

LüKK-Systeme für Komfortanwendungen werden auf Vorgaben von technischen Regeln geplant. Dazu zählen zum Beispiel die Arbeitsstättenrichtlinien ASR 3.5 „Raumtemperatur“ und ASR 3.6 „Lüftung“, die DIN EN 16798 Teil 1 „Eingangsparameter für das Raumklima“ und je nach Nutzungsart eines Gebäudes möglicherweise ergänzende Vorgaben aus weiteren Normen oder Richtlinien. Auf Basis dieser technischen Regeln werden dann mit dem Bauherrn oder dem Betreiber Sollwerte für Außenluftvolumenströme und für die Komfortparameter festgelegt – also für minimale/maximale Raumtemperaturen und Luftfeuchten, zur Luftqualität (CO2-Gehalt), zu maximalen Luftgeschwindigkeiten im Aufenthaltsbereich, zur Beleuchtung und zur Akustik im Raum.

Bereits bei der Abnahme einer Anlage ist nachzuweisen, dass die vorgenannten Komfortparameter eingehalten werden. Aber auch bei Beschwerden von Beschäftigten kann es sein, dass Sollwerte messtechnisch oder anhand von Daten aus der Gebäudeautomation überprüft werden. Nehmen wir an, dass die Auswertung der Ergebnisse deutliche Abweichungen der Messwerte von den Sollwerten zeigt. Wie werden diese Ergebnisse dann beurteilt? Hier sehe ich mehrere, zumindest für mich ungeklärte Fragen:

– Bis zu welcher Abweichung einer Messung vom Sollwert, zum Beispiel bei Temperaturen, Feuchten, Luftgeschwindigkeiten und der Raumluftqualität, gilt die Sollvorgabe noch als eingehalten beziehungsweise ab welcher Abweichung gilt sie als über- oder unterschritten? Wo liegen hier absolute oder relative Toleranzschwellen?

– Wie lange darf ein Messwert vom Sollwert abweichen, bis dies als „Vorgabe nicht eingehalten“ beurteilt wird? Eine Minute? Eine Stunde? An x Prozent der täglichen, wöchentlichen oder jährlichen Betriebszeit?

– Wie werden bei einer Analyse der Messungen Toleranzen der eingesetzten Messgeräte berücksichtigt?

Mir sind keine technischen Regeln bekannt, die zur Beantwortung der Fragen entsprechende Angaben oder Vorgaben enthalten. Obliegt somit eine Beurteilung „Vorgabe eingehalten“ oder „nicht eingehalten“ der subjektiven Bewertung des Sachverständigen oder der Prüforganisation?

Ich möchte an dieser Stelle keinesfalls dafür plädieren, die ohnehin bereits meist sehr umfangreichen LüKK-Normen weiter aufzublähen. Doch wäre es nicht denkbar, in den entsprechenden technischen Regeln die Vorgaben zum Einhalten von Sollwerten durch kurze Passagen mit konkreten Angaben und Toleranzen dahingehend zu ergänzen, wann eine Sollwertvorgabe eingehalten oder nicht eingehalten ist?

Das sind viele Fragen, deren Beantwortung mich wirklich beschäftigt. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antworten und weiteren Informationen zu den Fragen und freue mich auf eine interessante Diskussion zu diesem Thema.

Beste Grüße,

Dr. Manfred Stahl

manfred.stahl@cci-dialog.de

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cci281325

3 Kommentare zu “Kommentar: Hier fehlt mir die Toleranz

  1. Sehr geehrter Herr Stahl,
    besten Dank für Ihren Kommentar. Mein Kollege David Burkhardt und ich beschäftigen uns in der Praxis, in der Forschung, in der Normierung und in der Lehre immer wieder mit dem Thema Messunsicherheiten und Toleranzen bei der Übergabe von LüKK-Anlagen. Wir schätzen es, dass Sie das wichtige Thema Toleranzen im Zusammenhang mit der Revision der EN 12599 aufgenommen haben.
    Bei der bald abgeschlossenen Revision unserer nationalen Norm SIA 382/1 Mechanische Lüftung in Gebäuden – Grundlagen und Anforderungen haben wir das Thema Messunsicherheit und Toleranzen grundlegend überarbeitet. Im von der SIA 382/1:2014 verwendeten Begriff „Toleranz der Messunsicherheiten“ waren die Messunsicherheit und die zulässige Sollwertabweichung miteinander ungünstig vereint. Damals konnten die Werte der EN 12599:2012 und der SIA 382/1:2014 nicht eindeutig miteinander verglichen werden. Die Anwendung der SN EN 12599:2012 musste damals mit einem nationalen Vorwort und einem nationalen Anhang geregelt werden, damit die SIA 382/1:2014 maßgeblich blieb. Für Funktionsmessungen haben wir in der revidierten und Anfang 2025 publizierten SIA 382/1 zulässige erweiterte Messunsicherheiten und zulässige Toleranzen vom Sollwert voreinander getrennt und für wichtige Messgrößen tabellarisch ausgewiesen.
    In meiner langjährigen früheren Tätigkeit in der akkreditierten Prüfstelle HLK der Hochschule Luzern waren mir die Spezifikation und Konformitätszonen ein Begriff. Bei der Revision der SIA 382/1 haben wir diese Methodik für die Akzeptanz von Ergebnissen bei Funktionsmessungen angewendet. Ich bin im CEN/TC 156 als Schweizer Vertreter engagiert. In der für die EN 12599 zuständigen WG 8 mit Frank Bitter als Convenor sind aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel keine Schweizer Experten aktiv. Während meiner Beobachtertätigkeit im DIN NHRS habe ich Frank Bitter auf unsere obenstehend beschriebenen Arbeiten aufmerksam gemacht – ohne Rückmeldung.
    Die Vernehmlassung zur prEN 12599:2024 ist nun im Gang. Wir werden seitens SIA Begleitkommission zu CEN/TC 156 an der Vernehmlassung zur prEN 12599:2024 teilnehmen und das Thema Toleranz und Messunsicherheit einbringen.
    Ich hoffe, dass Ihnen unsere Arbeiten weiterhelfen, das Thema Messunsicherheiten und Toleranzen nochmals im cci begleitend zur Vernehmlassung zu lancieren.
    Besten Dank. Freundliche Grüße und alles Gute aus Schweiz
    Beat Frei und David Burkhardt

  2. Sehr geehrter Herr Dr. Stahl,

    ich habe mich in meiner Berufszeit immer wieder gewundert, dass bei den Messungen der Luftvolumenströme nur ein Messwert je Messstelle in das Protokoll eingetragen wurden, keine Angabe von Fehlertoleranzen. Dabei würde bei Beachtung der Toleranzen der eine oder andere Messwert noch die Vorgaben erfüllen und es müsste nicht nachreguliert werden. Leider bin ich bei den ausführenden Firmen immer wieder auf Unverständnis gestoßen, obwohl die Fehlertoleranzen eigentlich ein Ergebnis in deren Sinne ergeben würden.
    Ich habe mir eine kleine Excel-Berechnung hinsichtlich der Fehlertoleranzen nach DIN EN 12599 erstellt. In dem eingegebenen Beispiel ergibt sich eine Toleranz von +/- 17 %, das heißt bei einem Rohrdurchmesser von 200 mm und einem Luftvolumenstrom von 500 m³/h ergibt sich ein Volumenstrombereich von 415 bis 585 m³/h, der noch toleriert werden müsste.

    Mit freundlichen Grüßen
    Peter Salzwedel

  3. Lieber Dr. Stahl,
    bei meiner Arbeit als Sachverständiger habe ich immer wieder Abweichungen zu beurteilen. Man sollte wissen, dass die Minimal- und Maximalwerte in den Normen und Regelwerken in den meisten Fällen wirklich nicht zu unter- oder überschreitende Werte sind.

    Wenn eine horizontale Abwasserleitung ohne weitere Entlüftung maximal 3m lang sein darf, habe ich einmal bei „nur“ 3,15m, d.h. 5% Überschreitung einen erheblichen Sachschaden feststellen müssen, da dadurch ein kleiner Sifon leer gesaugt. – Auch mussten aus so einem Grund OPs über einige Tage abgesagt werden.

    Ich meine diese vorgegeben Werte (Temperatur, Luftrate, CO2, VOC, Schall, Schwingungen) sind Grenzwerte, deren Nichteinhaltung zum schlechteren hin zu beanstanden ist. Wir sollten den Planern empfehlen: diese Werte sind nicht das Ziel der Auslegung und müssen nicht gerade so erreicht werden, sondern sie sollten eher mit einer Abweichung zum Guten hin dimensioniert werden. Kleinste Mängel bei der Installation, z.B. ein klein wenig höherer Druckverlust, Reduzierung der Leistungdurch etwas Schmutz, etwas schlechtere Schalldämpfung, kann oder andere kleine Anpassungsprobleme führen dann nicht zu oft teuren Nachbesserungen.

    Natürlich war ich verärgert in Zürich mit 51 km/h statt 50 km/h wegen Geschwindigkeitsüberschreitung einen Strafzettel, international über die Botschaften und die hiesige Polizei übermittelt, zu bekommen. Ich muss doch auch auf den Verkehr schauen und nicht nur auf den Tacho. Deshalb auch da, wären 45 oder 48 km/h richtiger gewesen, aber ich wollte rechtzeitig am Flughafen sein.

    Wenn bei einer Abweichung zum Schlechteren ich keinen erkennbaren Nachteil für die Sicherheit oder den Menschen erkenne, (z.B. kleiner Schönheitsfehler im Flur oder Abstellraum, + oder – bei 1 K, 1 dB(A), 3%rF, statt 90° senkrecht +/- 1 oder 2°, (mehr oder weniger) habe ich allerdings manche Abweichungen als vorhanden, aber ohne Nachteil und zu akzeptieren eingestuft und konnte meist beide Seiten zu einem einvernehmlichen Abschluss bewegen – auch wenn sie dabei schon vor Gericht waren. Natürlich muss auch das Messgerät kalibriert sein und nach den Regeln eine Messabweichung beachtet werden.

    Die Luftqualität darf allerdings nie den maximal zulässigen Wert für langen oder kurzzeitigen Aufenthalt von Menschen oder Explosionsgefahr um keinen einzigen Prozent übersteigen. Das betrifft auch Überschreitungen vom zulässigen Druck , Eisbildung, Wasserabscheidung, Korrosionsschutz.

    Allerdings sind bei vielen Rechtsstreitigkeiten die Abweichungen vom Sollwert so erheblich, dass weitere Überlegungen sich erübrigen.

    Freundliche Grüße Reinhard Siegismund

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